In manchen Fällen ist Video klar überlegen. Wenn zum Beispiel das Tor des Monats zu wählen ist, oder wenn gelehrt werden soll, wie man den Palstek knotet. Doch Bewegtbilder tun sich schwer mit komplexen und abstrakten Botschaften. Sie brauchen den Einzelfall, die konkrete Situation. Die nicht sichtbaren Zusammenhänge verständlich zu machen – zum Beispiel bei der Entstehung von Finanz- und Wirtschaftskrisen –, darin liegt die Stärke und exklusive Kompetenz gut recherchierter journalistischer Texte.

Im digitalen Nachrichtenjournalismus präferieren viele Menschen Text gegenüber Bewegtbild. Eine Mehrheit von 58 Prozent der erwachsenen Deutschen nutzt online meistens die schriftliche Form, während nur 10 Prozent meistens Bewegtbild nutzen (Grafik 1). Bei 18 Prozent ist das Verhältnis von Text und Bild ausgeglichen, neun Prozent antworten mit „weiß nicht“. Das geht aus dem Digital News Report 2022 hervor. Die vom Reuters Institute der Universität Oxford veröffentlichte Studie untersucht den Online-Nachrichtenkonsum in 46 Ländern. Das Hans-Bredow-Institut in Hamburg verantwortet und veröffentlicht die deutsche Teilstudie.

Wenn es um komplexe Zusammenhänge geht, ist die Schriftform überlegen

Diejenigen, die Text gegenüber Bewegtbild bevorzugen, wurden auch nach den Gründen gefragt. Am häufigsten (52 Prozent) nannten sie den Vorteil der schnelleren Informationsaufnahme (Grafik 2). In der Tat nimmt zum Beispiel das Anschauen eines Video-Interviews mehr Zeit in Anspruch als die Lektüre des entsprechenden Textes – vorausgesetzt, man ist ein geübter Leser. Viele Nutzer (43 Prozent) finden zudem Werbespots lästig, die den Videonachrichten oft vorgeschaltet sind. In diesen Fällen kann sich der Zeitvorteil des Textes noch verstärken. Einen wichtigen Vorzug des Textes gegenüber dem Video sehen viele Nutzer auch darin, dass sie die Rezeption selbst steuern und kontrollieren (36 Prozent). Sie bestimmen nicht nur das Tempo der Informationsaufnahme. Bei Bedarf können sie auch zurückscrollen, um Informationen zu vertiefen, oder – umgekehrt – das bereits Bekannte überspringen. Der Text liefere ausreichend Informationen meint ein Viertel (26 Prozent). Im Umkehrschluss bedeutet es, dass sie vom Bewegtbild wenig Zusatznutzen erwarten. In der Tat setzen ja Videos oft bloß auf Symbolbilder: Limousinen fahren vor, Entscheider schütteln sich die Hände, im Hintergrund taucht kurz der Tross der Bodyguards und Übersetzer auf, bevor alle im Konferenzgebäude verschwinden.

Der Ländervergleich verweist auf den Einfluss von Bildung und Lesekompetenz

Dass Nachrichtenjournalismus in Schriftform eine schnellere Information ermögliche, wird – wie oben gezeigt – in Deutschland als herausragender Grund für die Textpräferenz genannt. Schon daran wird deutlich, dass Bildung und Lesekompetenz als Hintergrundvariable wirken: Ein Analphabet hat ja gar keine Option jenseits der visuellen Wahrnehmung.

Ein Vergleich zwischen den insgesamt 46 erfassten Ländern des Digital News Report bestätigt die positive Korrelation zwischen Bildung und Textaffinität. Grafik 3 vergleicht Finnland und Mexiko als die beiden Länder mit der höchsten und niedrigsten Vorliebe für schriftlichen Nachrichtenjournalismus. Finnland ist für sein langjährig gutes Abschneiden in den PISA-Studien bekannt, in denen die Lesekompetenz von Teenagern gemessen wird. In dem skandinavischen Land geben spektakuläre 85 Prozent an, Nachrichten online meistens zu lesen, während nur drei Prozent Bewegtbilder nennen. Am unteren Ende dieses Länder-Rankings steht Mexiko, ein Land mit unterdurchschnittlichen PISA-Resultaten.  Hier informieren sich nur 45 Prozent meistens über Texte.

Dr. Uwe Sander
Dr. Uwe Sander
Der gelernte Volkswirt arbeitete nach einigen Jahren in der empirischen Wirtschaftsforschung von 1984 bis 2014 in verschiedenen Funktionen beim Verlag Gruner+Jahr, u.a. für die Titel Capital, Stern, GEO und Art. Heute ist er freiberuflich als Autor und Berater tätig. Sein besonderes Interesse gilt der Entwicklung des digitalen Journalismus.